Rückblick
2. Deutscher Vergabetag 2015
Über 350 Teilnehmer, 50 Referenten und 29 ausstellende Unternehmen – damit war der 2. Deutsche Vergabetag 2015 des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) wohl abermals die größte vergaberechtliche Fachtagung in Deutschland. Vorwiegend öffentliche Einkäufer, aber auch Vertreter der Rechtspflege, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik kamen am 15. und 16.10.2015 im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Berlin zusammen, um sich über die Entwicklungen im Vergaberecht, neueste Rechtsprechung und Lösungen für die Beschaffungspraxis zu informieren. Im Fokus des Kongresses stand die Vergaberechtsreform, aber auch aktuelle Themen wie der “No-Spy-Erlass” und die Vergabe von Flüchtlingsunterkünften (v.l.n.r.: Dr. Thomas Solbach, Dr. Nicola Ohrtmann, Dr. Birgit Settekorn, Prof. Michael Eßig, Prof. Dr. Ralf Leinemann, Norbert Portz).
Nach Eröffnung der Tagung durch Martin Mündlein und Marco Junk, die Geschäftsführer des Deutschen Vergabenetzwerks DVNW (Foto links, v.l.n.r.) führte Rechtsanwältin Dr. Nicola Ohrtmann, Aulinger Rechtsanwälte, durch das ebenso abwechslungsreiche wie vollgepackte Programm. Dabei standen zunächst die Änderungen durch die Vergaberechtsreform im Mittelpunkt. Dr. Thomas Solbach, Referatsleiter Öffentliche Aufträge im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, berichtete aus erster Hand über Systematik und Inhalte der Reform.
|
Kontroverse Diskussion Die Änderungen, die im April 2016 in Kraft treten sollen, waren sodann Gegenstand der sich anschließenden Podiumsdiskussion. Während sich solche bekanntermaßen gerne dadurch auszeichnen, dass sich die Teilnehmer mit Samthandschuhen anfassen, wurde beim Deutschen Vergabetag Klartext gesprochen: So musst sich Solbach (Foto links) stellvertretend für die Bundesregierung einige Kritik anhören. Nach Ansicht von Norbert Portz (Foto unten, 2.v.l.), Beigeordneter für das Vergaberecht beim Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB), sei die Reform halbherzig: “Dringend notwendig ist es, auch das Vergaberecht unterhalb der Schwellenwerte, das bei den Kommunen mit über 95% aller Vergaben das Massengeschäft darstellt, zeitgleich zum 18. April 2016 zu flexibilisieren”, so Portz. |
|
Dagegen hielt Professor Dr. Ralf Leinemann (Foto links, 1.v.l.), Leinemann Partner Rechtsanwälte: “Unter dem Deckmantel der Angleichung an europäische Vorschriften senkt die Bundesregierung den hohen Wettbewerbs- und Antikorruptionsstandard des deutschen Vergaberechts“, so Leinemann. Denn die Reform bringt die Streichung des Vorrangs des offenen Verfahrens mit sich, künftig soll man frei wählen können zwischen offenem und nicht offenem Verfahren, bei dem meist nur drei potenzielle Bieter im Rahmen des Teilnahmewettbewerbs auswählt werden. „Der Auswahlprozess begünstigt bestehende Lieferantenbeziehungen und schließt viele potenziell am Auftrag interessierte Unternehmen aus, weil sie gar nicht erst ein Angebot abgeben dürfen“, so Leinemann. | |
Dr. Birgit Settekorn (Foto links), Direktorin des Beschaffungsamts des Bundesministeriums des Innern, ging auf die eVergabe ein, die mit der Reform von der Kür zur Pflicht wird: “Das ist eine Chance, die wir nutzen sollten. Wir dürfen daher keine Anforderungen für die Nutzer festschreiben, die die Vorteile der Digitalisierung gleich wieder zunichtemachen”, so Settekorn. In diesem Kontext erinnerte Solbach daran, dass, wie bereits bei der 2009er Reform, auch Vereinfachung das Ziel sei. Eben deshalb mahnte aber Portz: “Für eine eigenständige EG-VOB/A gibt es keine Legitimation, da diese sich ohnehin den Vorgaben des GWB und der VgV anpassen muss”. Große Zustimmung im Publikum fand auch seine und Leinemanns Forderung nach Abschaffung der Landesvergabegesetze: “Die ganze Wirtschaft ist entnervt von diesen landesrechtlichen Kapriolen, die nach Einführung des bundesweiten Mindestlohns jegliche Existenzberechtigung verloren haben”, so Leinemann. Vermittelnd schließlich Professor Michael Eßig vom Forschungszentrum für Recht und Management öffentlicher Beschaffung der Universität der Bundeswehr, München: “Ganz bis zu einem Bundesvergabegesetz hat es nicht gereicht, aber vielleicht ist die jetzige Vergaberechtsreform mit der Verlagerung der VOL-Inhalte in die VgV der Einstieg in den Ausstieg aus der Komplexität des Kaskadensystems”. |
Von Geheimdiensten und anderen Unbekannten
Spätestens seit Edward Snowden hat sich herumgesprochen, dass Geheimdienste spionieren. Mit großer Spannung erwartet wurde daher der Vortrag von Heinz-Peter Dicks (Foto links), Vorsitzender Richter, 27. Zivilsenat, Vergabe- und 2. Kartellsenat beim Oberlandesgericht Düsseldorf zum sog. “No-Spy Erlass” des Bundesministeriums des Innern. Dabei geht es um die Frage, inwieweit ausländische Bieter ausgeschlossen werden können, weil sie Auskunftspflichten insbesondere US-amerikanischer Geheimdienste unterliegen (Beitrag von RAin Sonja Stenzel hier). Dicks lieferte gute Lösungsansätze, wie sich das Spannungsfeld zwischen größtmöglichem Wettbewerb und berechtigtem Schutz der (Sicherheits-)Interessen des öffentlichen Auftraggebers auflösen ließe. Etwa in Analogie zu den Grundsätzen der Produktneutralen Ausschreibung. |
Fast andächtige Stille: Heinz-Peter Dicks bei seinem Vortrag zum “No-Spy-Erlass”
Hermann Summa (Foto links), stellv. Vorsitzender, Vergabe- und 1. Strafsenat, Oberlandesgericht Koblenz, stelle “Anspruch und Wirklichkeit der ILO-Kernarbeitsnormen” einander gegenüber. Der ebenso ernste wie kurzweilige Vortrag machte deutlich, dass trotz allgegenwärtigen Bezug auf die ILO über deren Inhalt erhebliche Unkenntnis herrscht. Etwa, dass diese ohne nationale Umsetzung keinerlei Rechte oder Pflichten von natürlichen oder juristischen Personen begründen, oder, dass diese leider nur die “Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit” (Übk. 182 aus 1999) verlangen. Für Erheiterung sorge der nach wie vor gültige Art. 7 Abs. 2 Übk. 29, der besagt, dass “Häuptlinge, die Verwaltungsbefugnis ausüben, dürfen mit ausdrücklicher Ermächtigung der Zuständigen Stelle Zwangs- oder Pflichtarbeit […] in Anspruch nehmen“. Der Vortrag hinterließ reichlich erstaunte Gesichter. | |
Inhouse und interkommunale Zusammenarbeit Einer der Dauerbrenner des Vergaberechts ist die Inhouse-Problematik bzw. die Fragestellung, wie man damit dem Vergaberecht entkommt. Da auch dies durch die anstehende Vergaberechtsreform erstmals kodifiziert wird, war der Vortrag von Norbert Portz (Foto links), der die rechtlichen Grenzen vor und nach der Vergaberechtsreform anschaulich gegenüberstellte, für viele der Teilnehmer der öffentlichen Hand von großer praktischer Bedeutung. Portz: „Die In-House-Vergaben und auch die interkommunalen Kooperationen sind durch das neue EU-Vergaberecht erweitert worden. Dies betrifft insbesondere die Heraufsetzung des Wesentlichkeitskriteriums auf 80 % sowie auch die ausdrückliche Regelung der Vergaberechtsfreiheit von Beschaffungen zwischen „öffentlichen Schwestern“ sowie von Beschaffungen einer „kommunalen Tochter“ gegenüber ihrer „städtischen Mutter“ (inverse Vergabe). Für die – horizontale – öffentlich-öffentliche Partnerschaft ist trotz des Verzichtes auf eine „echte“ Zusammenarbeit für die Vergaberechtsfreiheit für die Zukunft noch unklar, was unter den „kooperativen Konzepten“ als Voraussetzung für eine Ausschreibungsfreiheit zu verstehen ist. Auch wird die Ausfüllung des Begriffsmerkmals der „Überlegungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse“ in Zukunft noch der Klarstellung bedürfen.“ |
Praxisworkshops
Ein Kernbestandteil des Kongresses bildeten wie bereits im Vorjahr die insgesamt 12 Praxisworkshops, die auf Wunsch vieler Teilnehmer 50 % mehr Zeit für Austausch und Diskussion boten. In vier “Innovationsforen” am Morgen des zweiten Kongresstages blicken wir über den unmittelbar vergaberechtlichen Tellerrand, so zur eVergabe oder dem Breitbandausbau.
Von Druck bis papierloser eVergabe – 2 von 29 zufriedenen Ausstellern.
Vergabe von Flüchtlingsunterkünften
Erwartungsgemäß war der Saal bei diesem Thema bis auf die letzte Stuhlreihe gefüllt: Unter fachlicher Leitung von RA Dr. Martin Schellenberg (Foto oben, Mitte), Partner bei Heuking Kühn Lüer Wojtek und mit Tobias Jülke (Foto oben, r.), Referat Flüchtlingsaufnahme und –versorgung beim Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, wurden die rechtlichen wie tatsächlichen Herausforderungen bei der Vergabe von Flüchtlingsunterkünften beleuchtet. Mit dabei Canan Bayram (Foto oben, l.), Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin, die die sog. “Patenkind-Äffaire”, Unregelmäßigen bei der Vergabe an Flüchtlingsheimbetreiber bei gleichzeitiger persönlicher Verbindung zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber, aufgedeckt hatte.
Den zweiten Kongresstag komplettierten Vorträge zur Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung (EEE) durch Anja Theurer (Foto oben, l.), Sprecherin der Ständigen Konferenz der Auftragsberatungsstellen, Birgit Laitenberger (Foto oben, Mitte), Bundesministerium des Innern, zur Korruptionsprävention und Prof. Michael Eßig (Foto oben, r.) zur Lebenszykluskostenbetrachtung.
Abendgala
Ein Highlight der Veranstaltung war wie bereits im letzten Jahr die Abendgala, bei der noch einmal der “No-Spy-Erlass” im Mittelpunkt stand: Es diskutierten unter der Moderation von Dr. Nicola Ohrtmann (Foto unten, Mitte) für das Bundesinnenministerium Dr. Oliver Maor, für die IT-Wirtschaf Felix Zimmermann vom BTKOM, Dr. Friedrich Ludwig Hausmann, Partner bei PWC Legal und Heinz-Peter Dicks (v.l.n.r.):
Ganz wie bei Maybrit Illner lebte die Debatte im Internet auf dem Kurznachrichtendienst Twitter fort:
Preisverleihung
Der erste Kongresstag endete mit der Verleihung des diesjährigen DVNW-Awards für die Autoren der besten, d.h. meistgelesenen Beiträge des Vergabeblogs im vergangenen Jahr. Platz 5 ging an Dr. Michael Sitsen, Orth Kluth Rechtsanwälte, für “Wie erkenne ich einen Bauauftrag?”, Platz 4 an Dr. Martin Ott, Menold Bezler Rechtsanwälte, für “Ausschluss des Bieters bei Eintragungen außerhalb vorgegebener Vordrucke oder Formblätter?”, Platz 3 an Holger Schröder, Rödl & Partner, für “EuGH verschärft Regeln für Unterschwellenvergaben” und Platz 2 an Dr. Valeska Pfarr, Menold Bezler Rechtsanwälte, für “Mindestlohn und Mindestentgelt – Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus vergaberechtlicher Sicht”. Platz 1 gewann nach Leserzahl Dr. Daniel Soudry, von Soudry & Soudry Rechtsanwälte mit seinem Beitrag “Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts (Entwurf) – Die wichtigsten Neuerungen”. Soudry, ehemals Referendar bei Herrn Dicks im Vergabesenat des OLG Düsseldorf, ist einer der Vergabeblog-Autoren der ersten Stunde. Nach Karriere bei der Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek gründete er seine eigene Kanzlei Soudry & Soudry Rechtsanwälte. Er berät öffentliche Auftraggeber und Unternehmen im Vergaberecht.
v.l.n.r.: Michael Sitsen, Dr. Valeska Pfarr, Holger Schröder, Dr. Daniel Soudry, Dr. Martin Ott
Agenda
Ausrichter eines Workshops, Aussteller und Sponsoren